Chatkontrolle – Jetzt könnte es ernst werden

UPDATE: Die Abstimmung am 20. Juni wurde abgesagt: „Die EU-Staaten einigen sich heute nicht auf eine Position zur Chatkontrolle. Die Ratspräsidentschaft hat die Abstimmung von der Tagesordnung genommen, weil sie keine ausreichende Mehrheit hat. Damit ist Belgien gescheitert, jetzt geht die Präsidentschaft an Ungarn.“ netzpolitik.org vom 20. Juni 2024

Ernst war das Thema Chatkontrolle, beziehungsweise die Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch (Child Sexual Abuse Regulation, CSAR), schon seitdem der erste Gesetzentwurf im Mai 2022 eingebracht wurde. Seitdem gibt es auch das Bündnis „Chatkontrolle STOPPEN!“ und seitdem kämpfen wir gegen diese Verordnung. Richtig ernst wird es im Moment, da morgen, am 20. Juni 2024, voraussichtlich über den aktuellen „Kompromissvorschlag“ der belgischen Ratspräsidentschaft abgestimmt wird. Und erstmals sieht es so aus, als ob dem Entwurf von den ständigen Vertreter*innen zugestimmt werden könnte – obwohl der „neue“ Gesetzentwurf nichts anders macht als das höchstumstrittene CSS (ClientSideScanning) dezent in „Upload-Moderation“ umzubenennen.

Für alle, die noch gar nicht wissen, worum es bei der Chatkontrolle geht, gibt es hier unser Erklärvideo dazu

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36 Abgeordneten aus Bundestag und Europaparlament gegen die Chatkontrolle

Aus diesem Grund gibt es heute von uns mal keinen Offenen Brief oder eine Kundgebung vor dem Europahaus sondern einen Blick durch das Netz und die Presse, denn endlich wird auch ausserhalb der netzpolitischen Community die Chatkontrolle wieder thematisiert. Anlass ist nicht zuletzt der Offene Brief von 36 Abgeordneten aus Bundestag und Europaparlament (hier das .pdf) in dem sie vor einer „Blaupause für autoritäre Staaten“ warnen. Hier der netzpolitk.org-Artikel dazu.

Messenger Signal und Threema melden sich zu Wort

Viel zitiert wird Meredith Whittaker, Präsidentin der Signal Foundation, somit praktisch „Chefin“ des Messengers, die die Gefahren einer Umgehung der Verschlüsselung nennt – speziell nachdem das EU-Parlament sich im November 2023 strikt dagegen ausgesprochen hatte. „End-to-end encryption is
the technology we have to enable privacy in an age of unprecedented state and corporate surveillance.“
Das ganze Statement hier. Im Guardian droht sie in einem Interview sogar den Dienst in Europa einzustellen, sollte das Gesetz realisiert werden. „We will hold the line right. We would rather fold as a going concern than undermine or backdoor the privacy guarantees that we make to people.“

Der schweizer Messenger-Anbieter Threema hat sich ebenfalls klar gegen die Chatkontrolle positioniert: „Mit dem als «Chatkontrolle» bekannten Gesetzesvorschlag der EU-Kommission soll in der Europäischen Union ein Massenüberwachungsapparat von orwellschem Ausmass eingerichtet werden. Setzen sich EU-Bürger nicht jetzt für ihre Privatsphäre ein, könnte es schon bald zu spät sein.“

Die Presse hat das Thema doch nicht ganz vergessen

Der Spiegel fasst ganz gut zusammen, warum „Kein EU-Digitalvorhaben derzeit so umstritten wie die sogenannte Chatkontrolle [ist]“. „Politiker und Technikexperten kritisieren die Pläne, die etwa WhatsApp betreffen – kurz vor einer wichtigen Abstimmung.“

Die taz setzt die Abstimmung in Beziehung zur EU-Parlamentswahl:

Bislang scheiterte das Vorhaben, weil sich unter den Mitgliedstaaten nicht die nötige Mehrheit fand. Das könnte sich nun ändern: Bereits Ende Mai berichteten Insider:innen, dass Frankreich sein Veto aufgeben könnte. Damit würde die bisherige Sperrminorität der kritischen Mitgliedstaaten fallen. Wird der Beschluss bei einer anvisierten Abstimmung am Mittwoch angenommen, würde das den Eintritt in die Trilogverhandlungen mit Kommission und EU-Parlament bedeuten. Angesichts des Rechtsrutsches bei der Europawahl ist unklar, ob das Parlament dabei auf seiner bislang verhältnismäßig bürgerrechtsfreundlichen Linie bleibt.“

https://taz.de/Ueberwachungsplaene-der-EU/!6014403/

Auch die Süddeutsche Zeitung schreibt im Artikel „Steht das verschlüsselte Chatten vor dem Aus?

„Vorerst wird es diesen (Massenüberwachungsapparat von orwellschem Ausmaß) weiter nur in der Theorie geben. Am 1. Juli übernimmt Ungarn den Vorsitz im Rat der EU für ein halbes Jahr. Die Vertreter Budapests müssten dann die Verhandlungen mit dem Parlament organisieren, in dem der Widerstand gegen die Chatkontrolle lange stark war. Nun haben sich die Mehrheitsverhältnisse allerdings zugunsten der Konservativen verschoben – und die Verordnung hat doch wieder Chancen.“

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/eu-whatsapp-signal-verschluesselung-lux.7y8j9t1dqGntmTvQuFruf4? (leider hinter der Paywall)

DerStandard aus Österreich schreibt konkret von einem „Klima des Generalverdachts“: Letzter Widerstand gegen die EU-weite Messenger-Überwachung“.

netzpolitik.org als wichtigste Quelle

Ja, wir wollen über die „Bubble“ hinaus, aber die wichtigste und aktuelleste Quelle bleibt natürlich netzpolitik.org, eine Redaktion, die sich seit Anfang an mit dem Thema beschäftigt und ohne die unsere Arbeit unmögich wäre – hier ein dickes Danke an alle, die sich seit über zwei Jahren mit dem Thema beschäftigen! Hier ein aktueller Kommentar zur Situation „Die Chatkontrolle ist Überwachungsstaat pur„:

Seit Jahren reden sich Heerscharen von IT-Expertinnen und Sicherheitsforschern, Juristinnen, Datenschützer, Digitalorganisationen, Tech-Unternehmen, Messengern, UN-Vertretern, Kinderschützern, Wächterinnen der Internetstandards, Wissenschaftlerinnen und alle, die Sachverstand haben, weltweit den Mund fusslig: Die Chatkontrolle ist gefährlich. Sie ist eine neue Form der anlasslosen Massenüberwachung. Sie wird die IT-Sicherheit von uns allen schwächen. Sie wird auf den Apps und Endgeräten über die EU hinaus eine Überwachungsinfrastruktur einführen, die autoritäre Staaten mit Handkuss nutzen werden.
(und ja – dahinter steckt jedesmal ein Link mit Quellen und Hintergrundinformationen)

https://netzpolitik.org/2024/client-side-scanning-die-chatkontrolle-ist-ueberwachungsstaat-pur/

Die digitale Zivilgesellschaft warnt

Der Chaos Computer Club nennt den neuen Vorschlag einen „Kuhhandel, während niemand hinschaut„, das neue Framing einen „Hütchenspielertrick“:

Erzwungene Freiwilligkeit

Der belgische „Kompromiss“ sieht vor, dass Nutzer*innen der Chatkontrolle aktiv zustimmen müssen. Natürlich kommt die Ablehnung nicht ohne Strafe: Wer nicht zustimmt, darf überhaupt keine Bilder und Videos mehr versenden – eine starke Einschränkung des Dienstes. „Von Freiwilligkeit kann hier keine Rede sein,“ kommentiert Linus Neumann, Sprecher des Chas Computer Clubs.

https://www.ccc.de/de/updates/2024/chatkontrolle-kuhhandel-wahrend-niemand-hinschaut

Unser Bündnis Chatkontrolle STOPPEN! hat Ende Mai das Statement von EDRi, mit der wir auf europäischer Ebene eng zusammenarbeiten, übernommen und übersetzt:

„Es gibt gute Gründe, warum die digitale Zivilgesellschaft, aber auch technische und juristische Expert*innen sowie zahlreiche Kinderschutzorganisationen immer wieder eingefordert haben, dass die EU einen anderen Ansatz wählen muss. Denn es gibt keine Möglichkeit, die private Kommunikation von Menschen massenhaft zu scannen und zu melden, ohne den Kern ihres Rechts auf Privatsphäre zu verletzen und massive Sicherheitslücken zu schaffen. Die Suche nach einer magischen technischen Lösung ist zum Scheitern verurteilt, weil es keine magische Lösung für das schwerwiegende Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs gibt! Es erfordert vielschichtige Lösungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, jenseits von technokratischen Überwachungsphantasien und populistischen Verkürzungen.“

„Wenn die EU-Mitgliedstaaten dem neuen belgischen Ansatz zustimmen, werden sie das Teilen von Bildern, Videos und Links in der EU effektiv verbieten, indem sie diese Art von Inhalten nur in der privaten Kommunikation unter Massenüberwachung „erlauben“. Es mag dystopisch und wie eine Folge von Black Mirror klingen – aber wenn sich die Regierungen nicht für unsere Rechte einsetzen und bereit sind grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse anzuerkennen, könnten die Folgen bald auf unser aller Geräte zu sehen sein.“

https://digitalegesellschaft.de/2024/05/gescannt-oder-gesperrt-werden/

Was tun?

Patrick Breyer, scheidender Europaabgeordneter der Piraten und einer der wichtigsten Gegner der Chatkontrolle ruft dazu auf aktiv zu werden: Kontaktiere die Regierung

Jetzt ist es wichtig zu zeigen, dass die Zivilgesellschaft weiter wachsam ist. Der beste Weg dafür ist, dich direkt bei den sogenannten „ständigen Vertretungen“ zu melden, also die offizielle Vertretung deiner Regierung bei der EU.

Für Deutschland ist das:

Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union (zuständig ist Dr. Katharina Erdmenger vom Bereich Innenpolitik 2)

Tel: +32-27871000

Mail: info@bruessel-eu.diplo.de

Website: https://bruessel-eu.diplo.de/

Sag deiner Regierung, dass auch die aktuelle Fassung der Chatkontrolle inakzeptabel ist und fordere sie höflich aber bestimmt dazu auf, klar Stellung dagegen zu beziehen und gegen den Vorschlag zu stimmen!

Fordere sie auch auf, auf einer formellen Abstimmung und auf einer Auszählung auch der Enthaltungen zu bestehen. (Manchmal wird in dem zuständigen „Ausschuss der ständigen Vertreter“ getrickst und Enthaltungen nicht abgefragt, obwohl sie nach den EU-Regeln wie ein „Nein“ zählt.)

Hier noch mal unsere Argumentationen (und Aktionen) in kurz und knapp und mit Musik von Systemabsturz

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