Offener Brief gegen Chatkontrolle

114 europäische und internationale Organisationen haben sich Anfang Juni in einem offenen Brief an die EU-Kommission gegen die Pläne zur Chatkontrolle gewandt.

Das englische Original findet Ihr hier (pdf).

Der offene Brief als pdf und im Wortlaut:

Sehr geehrte EU-Kommissar.innen,

wenn Sie die Funktionsweise des Internets grundlegend untergraben, machen Sie es für alle weniger sicher.

Wir schreiben Ihnen als 114 zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften, die in den Bereichen Menschenrechte, Medienfreiheit, Technologie und Demokratie im digitalen Zeitalter tätig sind. Gemeinsam fordern wir Sie auf, die „Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Verhütung und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern” (CSA-Verordnung) zurückzuziehen und eine mit den europäischen Grundrechten vereinbare Alternative vorzulegen.

Es ist nicht möglich, privat und sicher zu kommunizieren und zugleich einen direkten Zugriff für Regierungen und Unternehmen einzurichten. Auch böswilligen Akteur.innen würden die Maßnahmen Tür und Tor öffnen. Eine sichere Internet-Infrastruktur, die freie Meinungsäußerung und Selbstbestimmung fördert, ist nicht möglich, wenn Internetnutzer.innen einer allgemeinen Überprüfung und Filterung unterzogen werden können und ihnen Anonymität verweigert wird.

Die vorgeschlagene CSA-Verordnung stuft Scanning- und Überwachungstechnologien – trotz gegenteiliger Expert.innenmeinungen – politisch als sicher ein. Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, wird das Internet in einen Raum verwandelt, der die Privatsphäre, die Sicherheit und die freie Meinungsäußerung aller Menschen gefährdet.1 Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, die mit dieser Verordnung eigentlich geschützt werden sollen.

Die vorgesehenen Vorschriften würden Anbieter.innen sozialer Medien für die von ihren Nutzer.innen geteilten privaten Nachrichten haftbar machen. Das würde Plattformen dazu zwingen, riskante und fehleranfällige Techniken anzuwenden, um jederzeit Kontrolle darüber zu haben, was wir alle tippen und teilen. In der Folgenabschätzung, die dem Verordnungsvorschlag beigefügt ist, werden Unternehmen angehalten, Client-Side-Scanning einzusetzen, um ihre Nutzer.innen zu überwachen, wohl wissend, dass die Diensteanbieter.innen das aus Sicherheitsgründen skeptisch sehen. Die Verordnung wäre ein noch nie dagewesener Angriff auf das Recht auf private Kommunikation und die Unschuldsvermutung.

Nicht nur Erwachsene sind auf Privatsphäre und Sicherheit angewiesen. Wie die Vereinten Nationen und UNICEF erklären, ist die Privatsphäre im Netz für die Entwicklung und Selbstverwirklichung junger Menschen von entscheidender Bedeutung. Sie sollten keiner Massenüberwachung ausgesetzt werden. Auch das britische Royal College of Psychiatrists weist darauf hin, dass es für Kinder schädlich ist, sie auszuspionieren und dass Maßnahmen, die auf Selbstbefähigung und Bildung basieren, sie im Netz wirkungsvoller schützen.

Die CSA-Verordnung wird in vielerlei Hinsicht schweren Schaden anrichten:

  • Eine private Nachricht über die eigene Missbrauchserfahrung, die für einen vertrauenswürdigen Erwachsenen gedacht ist, könnte automatisch markiert, von den Mitarbeiter.innen eines Social-Media-Unternehmens geprüft und dann zur Untersuchung an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden. Das geschähe gegen den Willen der Betroffenen und verletzt ihre Würde. Das könnte Opfer davon abhalten, sich Hilfe zu holen;
  • Whistleblower.innen und Quellen, die anonym über Korruption in der Regierung berichten wollen, könnten sich nicht mehr auf Online-Kommunikationsdienste verlassen, da die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ausgehebelt wäre. Bemühungen, Machthaber.innen zur Rechenschaft zu ziehen, würden erheblich erschwert;
  • Private intime Fotos jung aussehender Erwachsener, die diese rechtmäßig an ihre Partner.innen schicken, könnten von der KI fälschlich markiert werden, Mitarbeiter.innen sozialer Medien angezeigt werden und dann an Strafverfolgungsbehörden geleitet werden;
  • Solche unvermeidlichen Falschmeldungen würden Strafverfolgungsbehörden überlasten, die bereits jetzt nicht über die Ressourcen verfügen, alle Fälle zu bearbeiten. Sie müssten ihre begrenzten Kapazitäten darauf verwenden, riesige Mengen rechtmäßiger Kommunikation zu sichten, anstatt gefundenes Missbrauchsmaterial zu löschen und Verdächtige und Täter.innen zu verfolgen;
  • Bisher sichere Messengerdienste, zum Beispiel Signal, wären gezwungen, ihre Dienste technisch unsicher zu machen. Nutzer.innen hätten dann keine sichere Alternative mehr. Dies würde alle gefährden, die sich auf sichere Kommunikation verlassen: Anwältinnen, Journalisten, Menschenrechtsverteidigerinnen, NGO-Mitarbeiter – einschließlich derer, die Opfern helfen –, Regierungsmitglieder und viele andere. Wenn Dienste die Nachrichten weiterhin verschlüsseln wollen, würden sie mit einer Geldstrafe in Höhe von sechs Prozent ihres weltweiten Umsatzes belegt oder gezwungen, sich aus dem EU-Markt zurückzuziehen;
  • Quellenschutz und die digitale Sicherheit von Journalist.innen werden gefährdet, weil damit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung abgeschafft würde. Außerdem wird die Pressefreiheit durch den „Chilling Effect“ der Maßnahmen eingeschränkt;
  • Sobald diese Technologie eingeführt wäre, könnten Regierungen auf der ganzen Welt Unternehmen gesetzlich dazu verpflichten, nach Beweisen für politische Opposition zu suchen, nach Aktivist.innen, gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen und auch nach Menschen, die abtreiben lassen, wo Abtreibung kriminalisiert ist – also nach allem, was eine Regierung womöglich unterdrücken möchte;
  • Bereits entrechtete, verfolgte und marginalisierte Gruppen auf der ganzen Welt wären von diesen Bedrohungen besonders betroffen.

In den vergangenen Jahren ist die EU zum Vorreiter für das Menschenrecht auf Privatsphäre und Datenschutz geworden und hat damit einen weltweiten Standard gesetzt. Doch mit der vorgeschlagenen CSA-Verordnung macht die Europäische Kommission eine Kehrtwende in Richtung Autoritarismus, Kontrolle und Zerstörung der Freiheit im Netz. Dies wäre ein gefährlicher Präzedenzfall für weltweite Massenüberwachung.

Zum Schutz der freien Meinungsäußerung, der Privatsphäre und der Sicherheit im Internet fordern wir, die unterzeichnenden 114 Organisationen, Sie als Mitglieder der Kommission auf, die Verordnung zurückzuziehen.

Wir fordern stattdessen zielgerichtete, rechtmäßige und technisch machbare Alternativen, um das schwerwiegende Problem des Missbrauchs von Kindern zu bekämpfen. Maßnahmen müssen der Selbstverpflichtung der EU „Digitalen Dekade“ zu einem „sicheren und geschützten” digitalen Umfeld für alle entsprechen – das schließt Kinder und Jugendliche ausdrücklich ein.

Unterzeichnet,

  1. Acces Now – International
  2. Alternatif Bilisim (AiA-Alternative Informatik Gesellschaft) – International
  3. Agora Association – Türkei
  4. APADOR-CH – Rumänien
  5. ApTI Romania – Rumänien
  6. ArGE Tübingen – Deutschland
  7. ARTICLE19 – International
  8. Aspiration – Vereinigte Staaten
  9. Associação Portuguesa para a Promoção da Segurança da Informação (AP2SI) – Europa
  10. Association for Support of Marginalized Workers STAR-STAR Skopje – Republik Nordmazedonien
  11. Attac Austria – Österreich
  12. Aufstehn.at – Österreich
  13. Arbeiterkammer Österreich – Österreich
  14. Berlin Strippers Collective – Deutschland
  15. Big Brother Watch – Vereinigtes Königreich
  16. Bits of Freedom – Niederlande
  17. Bündnis für humane Bildung – Deutschland
  18. Center for Civil and Human Rights (Poradňa) – Slowakei
  19. Center for Democracy & Technology – Europa
  20. Chaos Computer Club – Deutschland
  21. Centrum Cyfrowe – Europa
  22. Bürger D / Državljan D – Slowenien
  23. Civil Liberties Union for Europe – Europa
  24. CloudPirat – Deutschland
  25. Committee to Protect Journalists – EU/International
  26. comun.al – Lateinamerika
  27. COMMUNIA Association for the Public Domain – Europa
  28. D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt – Deutschland
  29. Dataskydd.net – Schweden
  30. Defend Democracy – International
  31. Defend Digital Me – Vereinigtes Königreich
  32. Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) – Europa
  33. Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD) – Deutschland
  34. DFRI – Schweden
  35. Digital Advisor – Die Niederländer
  36. Digitalcourage – Deutschland
  37. Digitale Gesellschaft – Deutschland
  38. Digitale Gesellschaft / Digital Society – Schweiz
  39. Digitale Rechte Irland – Irland
  40. Europäische Digitale Rechte (EDRi) – Europa
  41. European Sex Workers‘ Rights Alliance (ESWA) – Europa und Zentralasien
  42. Electronic Frontier Finland – Finnland
  43. Elektronisk Forpost Norge (EFN) – Norwegen
  44. Electronic Frontier Foundation (EFF) – Vereinigte Staaten
  45. Electronic Privacy Information Center (EPIC) – International
  46. epicenter.works for digital rights – Österreich
  47. Equipo Decenio Afrodescendiente – Spanien
  48. Eticas Foundation – International
  49. Europäisches Zentrum für Non-Profit-Recht (ECNL) – Europa
  50. Europäische Journalistenvereinigung (EJF) – Europa
  51. Fight for the Future – US/International
  52. Fitug e.V. – Deutschland
  53. Fundación Karisma – Kolumbien
  54. The Foundation for Information Policy Research (FIPR) – Großbritannien/Europa
  55. Global Forum for Media Development – International
  56. GAT – Grupo de Ativistas em Tratamentos – Portugal
  57. Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. – Deutschland
  58. Hermes Center for Transparency and Digital Human Rights – Italien
  59. Homo Digitalis – Griechenland
  60. Human Rights House Zagreb – Kroatien
  61. imaniti.org – Tschechische Republik
  62. iNGO European Media Platform – Europa
  63. International Press Institute (IPI) – International
  64. Internet Governance Project – International
  65. Internet Society – International
  66. Interpeer gUG (gemeinnützig) – Europa
  67. Irischer Rat für bürgerliche Freiheiten – Irland
  68. ISOC Brazil – Brazilian Chapter of the Internet Society – Brasilien
  69. Internet Society Catalan Chapter (ISOC-CAT) – Europa
  70. ISOC UK England – Großbritannien
  71. IT-Pol – Dänemark
  72. Iuridicum Remedium, z.s – Tschechische Republik
  73. La Quadrature du Net – Frankreich
  74. Ligue des droits humains – Belgien
  75. LOAD e.V. – Deutschland
  76. Lobby4kids – Kinderlobby- Österreich
  77. Medienkompetenz Team e.V. – Deutschland
  78. Netherlands Helsinki Committee – Die Niederlande
  79. Nordic Privacy Center – Nordische Länder
  80. Norwegen Chapter der Internet Society – Norwegen
  81. Norwegische Unix-Benutzergruppe – Norwegen
  82. Österreichischer Rechtsanwaltskammertag – Österreich
  83. Open Rights Group – Vereinigtes Königreich
  84. quintessenz – Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter – Österreich
  85. Panoptykon Foundation – Polen
  86. Peace Institute – Slowenien
  87. PIC Amsterdam – Niederlande
  88. Plattform Bürgerrechte – Niederlande
  89. Presseclub Concordia – Österreich
  90. Privacy First – Niederlande
  91. Datenschutz International – International
  92. Ranking Digital Rights – International
  93. Red Umbrella – Schweden
  94. SaveTheInternet – Europa
  95. SekswerkExpertise – Niederlande
  96. Sex Workers Alliance Irland – Irland
  97. Sex Workers‘ Empowerment Network – Griechenland
  98. SMEX – MENA
  99. Social Media Exchange – Naher Osten und Nordafrika (MENA)
  100. SZEXE – Verband der ungarischen Sexarbeiterinnen – Ungarn
  101. StatewatchEU – Europa
  102. Stowarzyszenie Nasze Imaginarium – Polen
  103. Teckids e.V. – Deutschland
  104. S.T.O.P. – The Surveillance Technology Oversight Project – Vereinigte Staaten
  105. Stichting Stop Online Shaming – die Niederlande
  106. Voices4 Berlin – International
  107. Vrijschrift.org – Die Niederlande
  108. Whistleblower-Netzwerk – Deutschland
  109. Whose Knowledge? – International
  110. Wikimedia – International
  111. Wikimedia Deutschland e.V. – Deutschland
  112. Women’s Link Worldwide – Europa
  113. WorkerInfoExchange – International
  114. Xnet – Spanien

1 Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf freie Meinungsäußerung, David Kaye, betont: „Verschlüsselung und Anonymität ermöglichen es Einzelnen, ihr Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung im digitalen Zeitalter auszuüben.“